Kann die Meditation uns auf eine neue Stufe der Aufklärung führen?
Sie schenkt nicht nur innere Ruhe und Gelassenheit, sondern auch Empathie. Ihre Wirkung reicht deshalb weit über das Befinden des einzelnen hinaus. Manche Anhänger glauben sogar, dass Meditation den Weltfrieden retten könnte.
Wir bewundern die Tatkräftigen. Wir bewundern Christoph Kolumbus für die Entdeckung Amerikas, wir bewundern Steve Jobs für iPod, iPhone und iPad, und wir bewundern die afrikanischen Friedensnobelpreis-Trägerinnen Leymah Gbowee, Ellen Johnson-Sirleaf und Tawakkul Karman für ihren lebensgefährlichen Kampf um mehr Gleichheit und Gerechtigkeit. Wir bewundern die Tatkräftigen, weil sie die Welt verändern. Aber liegt die Kraft zur Veränderung immer in der Aktion? Oder ist es denkbar, dass man auch durch „Nichts-Tun“ die Welt verändert? Zum Beispiel durch Meditation.
Vertreter mancher Meditationsrichtungen sind fest davon überzeugt. Sie nehmen an, dass der innere Friede, den Meditierende empfinden, nach außen strahlt und die Mitmenschen friedlich stimmt.
Die Schule der Transzendentalen Meditation (TM) hat diesen Effekt sogar beziffert: Wenn ein Prozent der Weltbevölkerung permanent meditieren würde, wäre der positive Einfluss auf den Rest der Mensch- so groß, dass auf Erden Frieden herrschte.
Was ist dran an dieser Idee? Ist es pure Spinnerei, oder haben Meditierende tatsächlich eine besondere Ausstrahlung? Was passiert im Menschen, wenn er meditiert? Wissenschaftler haben sich jetzt dieser Frage angenommen – und vieles neu bewertet, was lange als esoterischer Firlefanz abgetan wurde.
Der chilenische Biologe und Philosoph Francisco Varela (1946-2001) widmete sein Leben der Frage, wie Geist und Körper eine Einheit bilden können
Schon in den 1980er Jahren fiel Hirnforschern auf, dass sich meditierende tibetische Mönche im Kern mit denselben Fragen beschäftigen wie westliche Forscher: Wie entsteht Bewusstsein? Was passiert im Kopf, wenn wir fühlen? Wie leistungs- und lernfähig ist der Geist? Der chilenische Biologe und Philosoph Francisco Varela lud daher den Dalai Lama 1987 zum Dialog ein. Da saß nun der Wissenschaftler im grauen Anzug mit dem Mann im roten Gewand zusammen, und sie diskutierten erstmals miteinander über den menschlichen Geist. Anschließend stellten sich einige Mönche den Wissenschaftlern sogar als Studienobjekte zur Verfügung.
Seitdem schaut die Wissenschaft den Mönchen buchstäblich ins Gehirn, während diese meditieren mit Elektroden auf dem Kopf oder im Magnetresonanztomografen liegend. Eine ganze Reihe der wundersamen Effekte der Meditation kann man deshalb inzwischen wissenschaftlich erklären. Zum Beispiel das Geheimnis der inneren Ruhe!
Wenn wir uns auf nichts Bestimmtes konzentrieren, sollte man annehmen, dass im Gehirn nicht viel los ist. Aber das Gegenteil ist der Fall. Versucht ein Mensch, an nichts zu denken, rasen die Gedanken erst richtig los, stellte Marcus Raichle, Professor für Radiologie und Neurologie an der Washington University in St. Louis, im Jahr 2001 erstaunt fest.
Im Ruhezustand des Gehirns fangen jene Hirnregionen richtig an zu ackern, mit denen wir uns gedanklich in Vergangenheit oder Zukunft versetzen. „Wenn es gerade kein Problem in der Realität zu lösen gibt, dann nutzt das Gehirn den Freiraum, analysiert Vergangenes oder plant die Zukunft“, erklärt Ulrich Ott, einer der bekanntesten Meditationsforscher Deutschlands vom Bender Institute of Neuroimaging in Gießen.
„Für erfolgreiches Handeln ist diese Fähigkeit des Menschen ein großer Vorteil“, erklärt Ott. Wir werten vergangene Situationen aus und lernen daraus für die Zukunft. Wir spielen Handlungsoptionen in Gedanken durch, um die beste zu finden.
Allerdings stehen moderne Menschen vor dem Problem, dass es so viele Möglichkeiten, Rollen und Baustellen gibt, über die man sich Gedanken machen kann. Ergebnis: Viele kommen nie zur Ruhe. Sie sehnen sich danach, den Geist mal abzuschalten. Menschen mit Meditationserfahrung haben diese Fähigkeit: Sie können diese Nerven-Netzwerke dauerhaft hemmen, erklärt Ott. Über Minuten und Stunden sorgen sie in ihrem Kopf tatsächlich für Ruhe.
Für Meditationsanfänger ist das anstrengend. Bei ihnen sieht man, dass im Frontalhirn, dort, wo der bewusste Wille entsteht, die Aktivität des Gehirns zunimmt, weil sie sich anstrengen müssen, ihren Geist in den Griff zu kriegen, erklärt Hirnforscher Ott, der selbst seit Jahrzehnten meditiert. Doch je länger man übt, umso mehr wird die Ruhe zur Routine.
Ott vergleicht diese Stufe der Meditation gern mit einem Ausflug auf einen Berg: Man geht nach oben und schaut ins Tal seiner selbst. Man nimmt seine Gedanken und Gefühle wahr und lässt sie vorbeiziehen, ohne sie zu bewerten. Tiefe Entspannung macht sich breit. Sie wirkt so tief, dass auch der Körper reagiert: Die Muskulatur entspannt sich – bis hin zu den winzigen Muskeln, die unsere Blutgefäße umschließen. Der Blutdruck sinkt.
Bildunterschrift: Der Dalai Lama half den Wissenschaftlern, das Geheimnis der inneren Ruhe zu lüften
Zugleich bemerken die Meditierenden, dass alle Gedanken und Gefühle in ihnen selbst entstehen. „Man erfährt, dass niemand von außen für diese Muster verantwortlich ist, sondern nur man selbst“, erklärt Experte Ott. Schon diese wertfreie Betrachtung der inneren Prozesse empfinden viele als befreiend – auch, wenn es im ersten Moment nicht immer angenehm ist.
Wir sehen unsere Angst, unseren Hochmut, unsere strengen Selbsturteile. So mancher merkt, wie häufig er sich mit Zukunftssorgen quält oder über Vergangenes grübelt. Wie wenig er im Hier und Jetzt bleibt.
Doch der ehrliche Blick lohnt sich: Viele Menschen mit Meditationserfahrung berichten, dass es ihnen auch im Alltag immer häufiger gelingt, aufmerksam und zugleich gelassen zu bleiben.
Der Philosoph und Bewusstseinsforscher Thomas Metzinger von der Universität Mainz ist deshalb der Ansicht: „Meditation kann Menschen auf eine neue Stufe der Aufklärung führen.“
Früher galt es, absolut wahrhaftig gegenüber Gott zu sein. Das Ideal der Aufklärung war dann, auch sich selbst gegenüber radikal ehrlich zu sein – Philosophen wie Metzinger sprechen hier auch von „intellektueller Redlichkeit“. Heute ist die „meditative Praxis ein nicht-intellektueller Weg, der genau zu dieser Ehrlichkeit, zu einer umfassenderen Wahrhaftigkeit sich selbst gegenüber führen kann“, erklärt Metzinger.
Häufig erleben Meditierende, die intensiv üben, dass sich nicht nur ihr Geist, sondern auch ihr Körpergefühl weitet. Die Umrisse des Körpers scheinen sich aufzulösen, man fühlt sich eins mit seiner Umgebung – aufgehoben im Universum. Schon um 1900 wurden diese mystischen Erfahrungen von Naturwissenschaftlern beschrieben. Aber lange hatte man keine wissenschaftliche Erklärung für diese Phänomene.
Die Idee, dass dieser innere Frieden eine Art übersinnliche Kraft ist und nach außen abstrahlt, lag nahe. Die Transzendentale Meditation hat dies zu ihrem Leitgedanken erhoben. Wer TM betreibt, murmelt im Geiste ein bestimmtes Mantra, das er bei einer kostenpflichtigen Einführung erhalten hat. Nach Auffassung der TM beeinflusst er damit auch seine Umgebung.
Weil in der TM-Bewegung auch Wissenschaftler aktiv waren, wurde das Phänomen mehrfach experimentell untersucht: Zum größten Experiment, im Sommer des Jahres 1993, versammelten sich 4000 TM-Anhänger aus aller Welt in Washington, DC. Während sie in Turnhallen meditierten, beobachteten Soziologen, Kriminologen und Polizisten die Wirkung auf die Stadt.
Am Ende publizierten die TM-Sprecher triumphierend, die Rate an Verbrechen, Überfällen und Morden sei in der Meditationswoche um bis zu 23 Prozent gesunken – dies sei direkt auf die Ausstrahlung der Meditierenden zurückzuführen.
Die Ergebnisse riefen weltweit Staunen hervor, weitere wissenschaftliche Veröffentlichungen folgten. Doch dann stellte sich heraus, dass alle an der Studie Beteiligten Anhänger der TM waren. Zudem ergab eine genaue Durchsicht des Datenmaterials, dass die Auswertung fehlerhaft war.
Für die mystische Einheitserfahrung der Meditierenden hat Hirnforscher Ulrich Ott denn auch eine sehr weltliche Erklärung gefunden. Normalerweise signalisieren unsere Sinne uns, wo wir als Lebewesen aufhören und das andere beginnt. In der Meditation können diese Grenzen verschwimmen. Auf der Ebene des Gehirns lässt sich dieses Phänomen so erklären, dass in der Meditation auch Nervenstrukturen gehemmt sind, die uns die Grenzen unserer Person und ihr Verhältnis zum Raum melden. Tun sie dies nicht, haben wir das Gefühl, wir seien eins mit allem, erklärt Ott. In seinem Buch „Meditation für Skeptiker“ beschreibt er detailliert, was beim Meditieren in Kopf und Körper passiert.
Zahlreiche Studien zeigen inzwischen, dass regelmäßiges Meditieren das Immunsystem stärkt, ebenso die Konzentrationsfähigkeit und die Fähigkeit, mit anderen Menschen mitzufühlen. Sie kann depressive Gefühle und Ängste mildern und verhilft Gestressten zu mehr Gelassenheit.
Meditation lässt sogar bestimmte Gehirnregionen wachsen: besonders die Hirnstrukturen, die uns helfen, mit unseren Emotionen umzugehen und wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen (Insula, Hippocampus, präfrontaler Cortex).
Hirnforscher Ott hat alle relevanten Studien dazu ausgewertet und stellt fest: „Offensichtlich hinterlässt das stete Üben von Konzentration und emotionaler Ausgeglichenheit seine Spuren in der neuronalen Struktur des Gehirns. Mit der Zeit können diese Veränderungen in der Gehirnstruktur wiederum die angestrebte Veränderung der mentalen Fähigkeiten und letztlich der Persönlichkeit unterstützen.“ Meditieren als sich selbst verstärkender Prozess auf dem Weg zum besseren Menschen.
Dabei gibt es viele Wege zur inneren Einkehr: In der Zen-Meditation sitzt man still auf einem Kissen und schaut sich selbst beim Sein zu. Im Yoga bringen bestimmte Bewegungsübungen die Kundalini-Energie ins Fließen. Im Bodyscan reist man im Geiste durch den eigenen Körper, spürt in jedes Organ, jeden Muskel. Die Achtsamkeitsmeditation (Mindfulness Based Stress Reduction, MBSR) integriert Meditation in den Alltag: atmen, duschen, Kaffee kochen – jede Tätigkeit kann hier zur Mini-Meditation werden.
Aber nicht jeder, der meditiert, wird automatisch zum netten Nachbarn. Metzinger: „Eine interessante Tatsache ist, dass Menschen, die auf dem Übungsweg relativ weit fortgeschritten sind, manchmal unkritisch an merkwürdigen Glaubenssystemen und Wahnvorstellungen festhalten.“
Bildunterschrift: Ein tibetischer Mönch legt sich in einen Magnetresonanztomografen, um für die wissenschaftliche Erkenntnis zu meditieren (Matthieu Ricard – Franzose, lebt in Nepal)
Metzinger denkt da beispielsweise an zweifelhafte Meditationsbewegungen oder die Verbindungen zwischen dem japanischen Faschismus und dem Zen-Buddhismus. Auch die alten Samurai, die für Furchtlosigkeit und Todesmut bekannt waren, nutzten Meditationstechniken, um sich die Angst vor dem Tod vom Leibe zu halten. Heute üben manche Manager Meditationstechniken mit dem Ziel, auch in schwierigen Verhandlungen oder bei Entlassungen frei von Ängsten, Zweifeln oder Mitgefühl zu sein.
Doch wer ohne fragwürdige Zielvorgaben meditiert, kann von den positiven Effekten der inneren Einkehr profitieren – und sogar die Welt um sich herum ein Stück besser machen: Wer ehrlich mit sich selbst ist, muss sein Ego nicht mit Wutausbrüchen schützen, sondern kann geradeheraus sagen, wie es ihm geht – und dem anderen seine Ansichten lassen, ohne sich dominiert zu fühlen.
In seinem Buch „Der Ego-Tunnel“ beschäftigt sich Metzinger mit der Frage, wie unser Wissen über Gehirn und Bewusstsein die Gesellschaft verändern könnte. Er ist überzeugt: „Wenn ein Teil der Bevölkerung regelmäßig meditieren würde, könnte das die Gesellschaft stärker verändern als irgendwelche politischen Maßnahmen. Nach dem, was empirisch an Daten vorliegt, würde sich beispielsweise prosoziales (selbstloses) Verhalten wesentlich verbessern.“
Wenn diese Meditationspraxis außerdem einen religionsunabhängigen Rahmen bekäme, sei ein wahres Umdenken in der Gesellschaft möglich: „Das kritische Bewusstsein der Bevölkerung würde steigen. Man würde nicht mehr alles mitmachen, was einem Arbeitgeber oder gesellschaftlicher Trend vorschreiben. Immer mehr Menschen verstehen im Moment, dass wir dringend eine neue, ganzheitliche Kombination beider Formen von Wahrhaftigkeit bräuchten: also von ernsthafter Meditationspraxis zusammen mit einem eigenständigen und wirklich kritischen Denken.“
Meditation plus eigenständiges Denken: die Zauberformel gegen die gefühlte Orientierungslosigkeit des modernen Menschen? Vielleicht sollten wir der stillen Kraft des Nichts-Tuns eine Chance geben.
Weitere Infos unter www.pm-magazin.de/links
TEXT: Carola Kleinschmidt
Veröffentlicht in: PM Magazin 04/2012, S. 40-44